Warum Armut so vielschichtig ist

Undine Zimmer berichtet von ihrer Kindheit mit Hartz IV

Hartz IV (c) pixabay.com
Datum:
Di. 5. Apr. 2016
Was Hartz IV für Familien wirklich bedeutet und welche Folgen es für Kinder hat, in Armut aufzuwachsen, hat Undine Zimmer in ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“ beschrieben.

Sie hat damit Aufsehen erregt, weil die Akademikerin nicht dem Klischee einer verwahrlosten Kindheit in einer Hartz-IV-Familie entspricht. Und weil ihr Beispiel zeigt, wie vielschichtig Armut ist.

Undine Zimmer ist eine mutige Frau: Mit 16 Jahren zog sie von zu Hause aus, ging nach Schweden zur Schule, musste dort einmal die Schule wechseln und machte schließlich ihr Abitur. Zurück in Deutschland studierte sie Skandinavistik, Neuere Deutsche Literatur und Publizistik. Obwohl sie Bafög bekam, musste sie nebenbei in einem Café arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Nach dem Studium sieht sie sich einem Berg Schulden gegenüber, weil sie das Bafög und ein Abschlussdarlehen für das Studium abbezahlen muss. Da ist sie Mitte 20.

Auf den ersten Blick wirkt Zimmers Geschichte gar nicht so ungewöhnlich. Wäre da nicht das Interesse, das sie hervorruft, wenn sie sagt, dass sie aus einer Hartz-IV-Familie stammt. Offiziell hat jedes Kind in Deutschland die gleichen Chancen auf Bildung und das Recht, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Jedes Kind soll wählen können, welche Schulform es besucht, ob es später lieber eine Ausbildung macht oder studiert oder beides – als duale Ausbildung parallel oder lieber klassisch nacheinander. Soweit der Wunsch. Die Realität aber sieht anders aus. Ein Gradmesser dafür ist das große Interesse daran, dass eine aus einer Hartz-IV-Familie studiert hat und nicht arbeitslos ist. In ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“ zeigt Undine Zimmer, wie weit Wunsch und Realität auseinander klaffen, indem sie vom Leben ihrer Hartz-IV-Familie berichtet. Das Buch ist bereits 2013 erschienen. Im Vorfeld der Solidaritätskollekte hat der Koordinationskreis kirchlicher Arbeitsloseninitiativen sie zu einer Lesereise im Bistum Aachen eingeladen.

 

Offiziell hat jedes Kind die gleichen Chancen, die Realität ist anders

Hartz IV wird im Volksmund die Grundsicherung genannt, mit der Langzeitarbeitslose und ihre Familien unterstützt werden. Das sind zurzeit für eine Alleinstehende oder Alleinerziehende 404 Euro, Paare in einem gemeinsamen Haushalt bekommen 364 Euro pro Person, Kinder bekommen je nach Alter von 237 Euro bis 306 Euro. Das Kindergeld wird in voller Höhe angerechnet. Davon muss der Lebensunterhalt bestritten werden: Essen, Kleidung, Körperpflege, Einrichtung und Instandhaltung der Wohnung, Haushaltsgeräte, Bildung und Freizeit. Für eine Alleinerziehende mit einem Kindergartenkind sind das pro Tag 21,36 Euro. Ein Paar Kinderschuhe kostet knapp zwei Tagessätze, für eine Waschmaschine müssen etwa 19 Tagessätze zusammengespart werden.

Man muss kein Rechenkünstler sein, um zu sehen: Wer damit auskommen will, muss gut rechnen. Laut Definition der EU gelten Menschen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen, als arm. Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband, der im Februar den aktuellen Armutsbericht vorlegte, gilt in Deutschland eine alleinstehende Person als arm, wenn ihr Einkommen im Monat unter 892 Euro liegt. Eine Familie mit zwei Kindern gilt mit einem Einkommen unter 1872 Euro als arm. Hartz-IV-Empfänger gehören zu dieser Gruppe.

 

Armut ist die Kombination vieler Mängel über eine lange Zeit

Undine Zimmer entspricht nicht dem Bild, das durch Reality-Formate im Fernsehen von Hartz-IV-Empfängern gezeichnet wird. Sie hat Bildung, drückt sich gepflegt in ganzen Sätzen aus, schreit nicht rum, geht einer geregelten Arbeit nach, ernährt sich gesund. Das hat sie von ihrer Mutter gelernt: Zu Hause gab es oft Haferflocken, weil die so gesund sind. Es gab Gemüse und keine Fertiggerichte. Ihre Mutter hört Kulturradio, sie interessiert sich für Kunst. Sie hat es geschafft, ohne Vorkenntnisse einen Computer einzurichten zu einer Zeit, als Betriebssysteme, Treiber und Datenverarbeitungsprogramme noch nicht vorinstalliert waren. Sie hat eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht.

Was also ist schief gelaufen? Und warum ist es so schwer, aus der Hartz-IV-Falle wieder herauszukommen? Es sind gleich mehrere Faktoren, und manche sind bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach zu lösen, wie man sich das als Außenstehender mitunter vorstellt. Zum einen sorgt die finanzielle Not für einen permanenten Grundstress. Wenn hier Geld ausgegeben wird, fehlt es an einer anderen Stelle. „Im Alltag dominieren viele existenzielle Fragen“, sagt Undine Zimmer. „Dazu kommen dann noch andere Faktoren wie zum Beispiel Konflikte, die den Alltag bestimmen.“ Auch der ständige Rechtfertigungszwang, dem sich die Menschen ausgesetzt sehen, setzt zu.

In ihrem Buch beschreibt Undine Zimmer, dass ihr Vater raucht. Und als Leser denkt man unwillkürlich daran, was das kostet – kein Wunder, dass kein Geld da ist. Aber als Zimmer erzählt, wie der Vater den Kaffee an der Imbissbude mit der Zigarette genießt, versteht man, dass das Rauchen eine kleine, wichtige Insel für den Vater ist. Das Gefühl, sich hin und wieder etwas gönnen zu können. Wenigstens diesen kleinen Luxus. „Aber was Armut in Deutschland ausmacht, ist nicht primär durch Hunger, Krankheit und Trinkwasserknappheit gekennzeichnet.

Es ist Armut im Sozialen, im Wissen um Dinge wie den Umgang mit Geld und Ernährung, fehlender Glaube an Bildungs- und Aufstiegschancen, an langfristige Investitionen und an sich selbst“, beschreibt Zimmer die Vielschichtigkeit der Armut in einem reichen Land. „Armut ist mehr als ein finanzieller Mangel. Armut ist die Kombination vieler Mängel über eine lange Zeit, die sich vielleicht einmal aus finanziellen Mängeln entwickelt haben.“ Es fehle an einem Zugang an Informationen, Internet, Büchern, Wissen, Zeit und Platz für Kinder. Dass es einige kostenlose Angebote wie freie Museumsbesuche gibt, führe nicht aus dieser Isolation. „Dort trifft man oft Leute aus dem Mittelstand. Nur weil man umsonst ins Museum kann, hat man noch keine Verbindung zu den anderen Besuchern“, sagt sie. Und das hat seinen Grund: „Das sind zwei Lebenswelten.“ Um hier Anschluss zu finden, müsste sich die finanzielle Situation der Hartz-IV-Empfänger deutlich verbessern. Für Langzeitarbeitslose wie Undine Zimmers Mutter hieße das eine neue Arbeitsstelle. Dass ihr das trotz Ausbildung nicht gelingt, liegt an einem System, das undurchlässig ist. Denn sowohl der Versuch, das Abitur zu machen, als auch eine Weiterbildung scheitern letztlich an einer fehlenden Kinderbetreuung. Auf dem freien Arbeitsmarkt hat sie so keine Chance, und Arbeitsmaßnahmen, bei denen sie zeigt, was sie kann, führen auch nicht zum Ziel. Mit jedem Jahr werden ihre Chancen geringer, und der Glaube an sich selbst nimmt stetig ab.

 

Lesungen

Montag, 25. April, 19.30 Uhr, Mediothek der Stadt Krefeld, Theaterplatz 2, 47798 Krefeld

Dienstag, 26. April, 19.30 Uhr, Volksverein Mönchengladbach, Geistenbecker Straße 107, 41199 Mönchengladbach

Mittwoch, 27. April, 19.30 Uhr, Buchhandlung Gollenstede, Hochstraße 127, 52525 Heinsberg

Donnerstag, 28. April, 19.30 Uhr, Soziokulturelles Zentrum Klösterchen, Dahlemer Straße 28, 52134 Herzogenrath (in Kooperation mit der Buchhandlung Katterbach, Herzogenrath)

Freitag, 29. April, 18 Uhr, Pfarrsaal Franziska von Aachen, Hof 7, 52062 Aachen

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