Wie erobern wir uns unsere Zeit zurück?

Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach fordert vielfältigen Kurswechsel

Hengsbach (c) KiZ
Datum:
Di. 1. Dez. 2015
„Ich kann nicht mehr“ – lautete vor einem Jahr der Titel einer Ausgabe des Uni-Spiegels. Studien belegen eine signifikante Zunahme von psychosomatischen Krankheiten bei Arbeitnehmern. Wir leben in einer atemlosen Zeit.

 Der Sozialethiker und Jesuit Friedhelm Hengsbach untersucht ebenfalls dieses Phänomen und kommt zu einem provokativen Schluss: Das Hamsterrad der Beschleunigung ist hausgemacht. Wir haben uns das unbarmherzige Regime der Beschleunigung durch die Mechanismen der internationalen Finanzmärkte aufzwingen lassen, die zuerst die börsenorientierten Unternehmen, dann die Gesellschaft und schließlich auch das Privatleben durchdringen. „Die Zeit gehört uns“, fordert er und hat nichts weniger als eine grundlegende Systemreform im Sinn. Seine Thesen stellte Hengsbach, der bis zu seiner Emeritierung an der Frankfurter Hochschule St. Georgen lehrte, bei einem Vortrag an der Katholischen Hochschule Aachen vor.

Warum haben wir das Gefühl, das uns die Zeit davonrinnt? Um diese Frage zu beantworten, stellt Hengsbach dar, was die Zeit eigentlich ist. Für den Kirchenlehrer Augustinus sitzt das Zeitempfinden in der menschlichen Seele, denn: „Anderswo sehe ich sie nicht.“ Nach Meinung des Philosophen Ludwig Wittgenstein verhexe unsere Sprache den Verstand, wenn es um die Zeit geht. Hengsbach empfiehlt daher, Abstand zu nehmen von abstrakten Ideen und die Wörter Zeit, Verstand, Geist und Seele in Tätigkeitswörter zu übersetzen. Statt „Ich habe Zeit“ hieße es also „ich zeite“. „Wir sagen doch auch, ich spiele, ich laufe, ich singe, statt ich habe Gesang, Spiel, Lauf“, erläutert Hengsbach.

 

Wir handeln unserem natürlichen innerlichen Rhythmus zuwider

Der Duden definiert Zeit in Anlehnung an das englische Wort „timing“ so: „Einen geeigneten Zeitpunkt wählen, um einen gut koordinierten Ablauf herzustellen.“ Dies passt auch zu einer Erläuterung Wittgensteins, wie Kinder die Zeit lernen: Nach dem Spiel sollen sie heimkommen, Schuhe ausziehen, Hände waschen und zu Abend essen, anschließend Zähne putzen und sich fertig für das Bett machen. Das Wann bestimmen Uhren oder Angaben wie „wenn es dunkel wird“.

Die üblichen Ereignis- oder Handlungsfolgen, mit denen wir unsere Handlungen abstimmen, sind also die Bewegungen der Himmelskörper, unsere inneren Uhren und gesellschaftliche Steuerungsformen: Markt, Macht und Verständigung. Die jüngsten Entwicklungen, führt Hengsbach aus, führten immer wieder dazu, dass wir unserem inneren Rhythmus zuwiderhandelten: Wir machen Überstunden, um das gestiegene Arbeitspensum zu schaffen. Und ausgerechnet im November und Dezember, der Zeit, in der biologisch eigentlich alles auf Sparflamme kocht, bricht bei uns die hektischste Zeit aus, weil wir durch Einkaufspassagen eilen, um Geschenke zu besorgen.

 

Wenn Facharbeiter die gleiche Arbeit in der halben Zeit schaffen müssen

Wie sehr sich unser Zeitgefühl verschoben hat, macht Hengsbach am Beispiel aus der Werbung deutlich: Dauerte ein Werbespot aus den 60er Jahren noch rund sechs Minuten, werden die Werbebotschaften heute in knapp zehn Sekunden vermittelt. Hengsbach sprach für seine Recherchen mit Facharbeitern. Diese beklagten, dass sie nun die gleiche Arbeit in der Hälfte der Zeit schaffen müssten. Für Hengsbach beginnt dieser massive Schub der Beschleunigung mit der Abkopplung der informa- tionsgestützten Finanzmärkte von der Realwirtschaft.

Seit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems 1973 seien gewaltige Finanzströme aus den Industriestaaten in die OPEC-Länder und wieder zurück geflossen, zum Teil wurden diese Ströme auch in Schwellenländer „umgeleitet“. Um diesen Fluss an virtuellem Kapital zu bewältigen, entstanden weltweit Filialen der Finanzinstitute. Dass die Geschäfte vor allem über die neuen Technologien abgewickelt werden, hat das Volumen und die Geschwindigkeit drastisch erhöht. Börsenorientierte Unternehmen stellen nunmehr einen Vermögensgegenstand der Aktionäre dar. Die Finanzmärkte würden von den Regierenden als fünfte Gewalt einer „marktkonformen“ Demokratie akzeptiert.

Die Staaten würden, das beweise auch die jüngste weltweite Bankenkrise, zu kooperativen Geiseln von Banken und Industriekonzernen. Das habe auch Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse, die weitgehend entregelt worden seien: Befristete und Leih-Arbeitsverträge und prekäre und niedrig entlohnte Beschäftigung haben zugenommen. Die in den 1980er Jahren von den Gewerkschaften geforderte 35-Stunden-Woche habe sich ins Gegenteil verkehrt. Inzwischen arbeiten Menschen in Deutschland im Durchschnitt wieder 42 Stunden die Woche. Durch die Rufbereitschaft nimmt der Arbeitnehmer den Betrieb mit nach Hause. Ein weiteres Problem ist auch die ungleich verteilte unbezahlte Hausarbeit und Kindererziehung auf Mann und Frau. Wie also gelingt es uns, die Zeit, die uns gehört, wieder zurückzuerobern? Hengsbach hat dafür drei Strategien entwickelt. Da ist zum einen die persönliche Verweigerung, der Versuch eines persönlichen Zeitmanagements und die Hinwendung zu einer entschleunigteren Lebensweise.

Das allein reiche jedoch nicht aus. Es bedürfe auch einer Rückkehr zu bewährten Verfahren des Sozialstaates. „Arbeit ist keine Ware“, stellt Hengsbach fest. Ihre Aufwertung, eine strenge Regulierung der internationalen Finanzmärkte, flächendeckende Tarifverträge und eine gesetzliche Regelung der Tarifbindung seien weitere notwendige Faktoren. Und er fordert eine zivilgesellschaftliche Rebellion, in der Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Umweltschutz und die Halbtagesgesellschaft verwirklicht werden. Was utopisch klingt, erscheint Ökonomen gar nicht mehr so abwegig. So fordert das Institut der Weltwirtschaft Kiel in einer Empfehlung für die Bundesregierung zur „Finanz- und Wirtschaftspolitik einer anhaltenden monetären Expansion“ (2014) ebenfalls eine Regulierung der Finanzmärkte, um „finanzwirtschaftliche Übertreibungen“ zu unterbinden. Christine Lagarde, Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), kritisiert die ungleiche Verteilung des weltweiten Vermögens und sieht darin eine ernste Gefahr für die Stabilität der Weltwirtschaft. Unsere globalen Probleme fragen nach Lösungen, und die Zeit drängt auch hier.

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